Ulrike Ludy

Name? Ulrike Ludy
geboren? ja
wann? 7 Tage nach dem Berliner Mauerbau im Jahre 1961
wo? im tiefen Pfälzer Wald, aber meine Eltern haben mich doch noch gefunden
Konfession? nicht ohne
erlernte Tätigkeiten? Lesen und schreiben, beten und lachen und noch jede Menge mehr
derzeitige Beschäftigungen? Auch jede Menge und die sind auch nicht ohne
Noch Fragen? Dann schreibt mir unter: ulrike.ludy@freenet.de

 

 

 

Hier ein Text von mir:

 

Das einsame E

Auf der Anzeigetafel auf Gleis 1 des Mainzer Hauptbahnhofes steht es, das einsame E. Eigentlich sollte es eines der beiden E von Wiesbaden werden. Es ist 5.15 Uhr – viel zu früh, meinten die anderen Buchstaben und haben sich wieder umgedreht. Das kleine große pflichtbewußte E blickt auf die Menschen auf dem Bahnsteig, die noch sehr verschlafen aussehen, und ist stinksauer auf seine faulen Kollegen. In fünf Minuten soll der Zug ankommen, und die Leute erwarten schließlich eine genaue Information darüber. Ein orientalisch aussehender Mann fragt eine Frau, ob der Zug nach Wiesbaden schon weg sei, weil die Anzeigentafel nichts Genaues anzeige. Die Frau kann ihn beruhigen, und die Beiden unterhalten sich über die mittlerweile übliche Verspätung der Deutschen Bahn. Im nächsten Moment ertönt über Lautsprecher die Aussage, dass die Regionalbahn nach Wiesbaden fünf Minuten später ankommen wird. „Siehste“, sagt das W. aus dem Hintergrund, „und da sollen wir so früh aufstehen, wenn die das nicht mal hinkriegen, die Züge pünktlich ankommen zu lassen!“ Jetzt hat das E endlich die Schnauze voll, sollen die doch ihren Mist alleine machen. Es wird sich einen anderen Arbeitsplatz suchen, wo es etwas zuverlässiger zugeht als hier. Mit einem Satz springt es von der Anzeigentafel und landet mitten auf dem Bahnsteig. Da der Mainzer Haupftbahnhof gerade umgebaut wird, ist es in den dort liegenden Dreck gefallen, und es kann gar nicht aufhören mit Niesen. „Hatschi!“ Und noch einmal „Hatschi!“

 

Es beschließt, sich im wahrsten Sinne des Wortes aus dem Staub zu machen. Als es an der Parcusstraße an der Ampel steht, fällt ihm auf, dass es vollkommen verdreckt ist. So schlägt es den Weg Richtung Rhein ein, denn Wasser macht bekanntlich sauber. Am Kaisertor angekommen, läuft es zur nächsten Treppe und lässt sich von den Wellen sauber waschen. Es steht an der untersten Stufe, als es von einer riesigen Welle erfasst wird, und schwupps – fällt es ins Wasser. Nur kann so ein E, das bisher bei der Deutschen Bahn gearbeitet hat, nicht schwimmen und hat in Nullkommanichts eine Menge Wasser geschluckt. Neugierig kommt eine Ente angeschwommen, da sie glaubt, das E sei etwas zum Fressen. Sie schnappt mit ihrem Schnabel das E und will es gerade hinunterschlucken, als eine zweite Ente angeschwommen kommt, weil sie auch etwas von dem Leckerbissen abhaben will. Dem E wird es ganz anders, als es so zwischen den beiden Entenschnäbeln hin und her gezerrt wird. Plötzlich lassen die Enten los, und das E fliegt im hohen Bogen auf die Treppe zurück. Es schleppt sich die Treppe hoch und legt sich auf eine Bank, wo es vor Erschöpfung einschläft.

 

Als es wieder aufwacht, ist es bereits Mittag. Es steht auf und geht in Richtung Innenstadt. Am Hilton, wo die Leute draußen im Café sitzen, bleibt es stehen, um die Leute zu beobachten. Einige lesen in irgendwelchen Büchern und winken einem Mann in schwarzweißer Kleidung. Das E hat mal gehört, das es in Büchern Buchstaben gibt; und vielleicht gibt es ja da eine Arbeit für so ein kleines großes E. Es hopst auf die Schulter einer Frau, die gerade im einem dieser Bücher liest. Die Frau erschrickt, weil sie noch nie ein einsames E auf ihrer Schulter sitzen hatte. Das erregt die Aufmerksamkeit der anderen Leute, und so springt es schnell wieder auf den Boden und macht sich davon. So hat es sich die Suche nach einer neuen Arbeit nicht vorgestellt. Vielleicht sollte es einen Experten für Buchstaben fragen. Aber wo in aller Welt soll es so einen Experten finden? Da steht ein Haus aus Glas direkt am Rhein und ein Plakat, auf dem steht Gutenberg. „Gutenberg!“ denkt es. Das ist doch der Erfinder der Buchdruckerkunst! Mensch, da ist ja der Experte, den es fragen kann. Aber wie soll es mit dem in Kontakt kommen? Kaum hat es diesen Gedanken gedacht, da hört es eine zarte Stimme sagen: „Du mußt ins Gutenberg-Museum gehen!“ Das E blickt nach oben und bemerkt, dass das G am Ende von Gutenberg sich zu ihm herabgebeugt hat. Es fragt, wie es da hinkommt, und nachdem es ihm gedankt hat, macht es sich auf den Weg. Am Museum angekommen, schlüpft es zwischen den Besuchern in die Eingangshalle. Dort steht ein Mann mit ernstem Gesichtsausdruck, der sich durch ein Lächeln aufhellt, als ein Besucher fragt, wo die Druckerpresse steht. Das E folgt dem Besucher die Treppe hinunter. Dort steht eine Menge Leute und lauscht den Ausführungen eines altmodisch gekleideten Mannes. Das E hört ebenfalls gespannt zu. Der Mann steht vor einer großen hölzernen Maschine, auf der viele Buchstaben in Reih und Glied liegen. Nun walkt er mit einem Lederballen über die Buchstaben und erklärt, dass er nun mit dem eigentlichen Drucken beginne. Dazu nimmt er von einem Stapel ein Stück Papier und legt es auf die Buchstaben. Das E überlegt nicht lange und legt sich auf einen der Buchstaben. Es piekt ein bisschen, als die Druckerpresse auf die Buchstaben drückt, aber das E fühlt sich bei den Buchstaben sauwohl. Doch als der Mann das Papier von den Buchstaben, die er Lettern nennt, abzieht, ist er ein wenig verdutzt, den was da zu lesen ist, liest sich ein wenig komisch. Da steht jetzt statt: „Er fastete vierzig Tage!“ „Er fEstete vierzig Tage!“

 

Der Mann glaubt, dass der Druckteufel am Werk gewesen sei. Doch als er einen Blick auf die Lettern wirft, zweifelt er an seinem Verstand. Das E war längst ins Freie gelaufen und stand jetzt vor der Büste von Gutenberg. „Na, wie hat es dir in meinem Museum gefallen?“ „Ganz gut“, meinte das E. „Du bist also der Johannes Gensfleisch, den die ganze Welt Gutenberg nennt. Ich wollte dich mal was fragen.“ „Dann schieß mal los“, meinte Gutenberg. „ Weißt Du, ich habe bisher am Hauptbahnhof gearbeitet, aber da hat es mir nicht mehr gefallen, weil die Züge immer unpünktlich sind, und meine Kollegen sind stinkfaul. Ich dachte mir, vielleicht weißt du eine neue Arbeit für mich?“ „Mmmh“ Gutenberg neigt seinen Kopf nach unten und blickt das kleine E nachdenklich an. „Du könntest als Letter im Druckladen arbeiten. Der Chef, Doktor Martin, freut sich bestimmt über eine tüchtige Kraft, wie du eine zu sein scheinst. Geh doch gleich mal rüber in den Druckladen und stell dich vor. Sag, dass ich dich geschickt habe, dann nimmt er dich bestimmt!“ Das kleine E bedankt sich bei Gutenberg und ist seit diesem Tag als Aushilfsletter im Druckladen beschäftigt, wo es ein zufriedenes Dasein führt. (ende)

 

geschrieben im Herrn Anno domini 2000 zum 500. Geburtstag des Johannes Gensfleisch zum Gutenberg.

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